Immer schnellere Erregung im Netz?
Episode 149
Immer schnellere Erregung im Netz?
Zwei Jahre stand der Vorwurf im Raum, dass Rockmusiker Gil Ofarim in einem Luxushotel in Leipzig antisemitische Diskriminierung erfahren musste. Nicht etwa, weil die Staatsanwaltschaft noch in diese Richtung ermittelt hat, im Gegenteil, sondern weil Ofarim und seine Anwälte noch bis zum Prozessbeginn im November 2023 bekräftigt haben, dass dem Sänger aufgrund einer Davidstern-Kette der Check-in verweigert worden wäre. Das emotionale Instagram-Video von Ofarim ging am 5. Oktober viral und schlug wie eine Bombe ein. Zwei Jahre später gesteht er wortkarg vor dem Landgericht Leipzig, dass dies eine Lüge war.
Sowohl der Vorsitzende Richter der großen Strafkammer wie auch der Anwalt des von Ofarim beschuldigten Hotelmanagers, der als Nebenkläger auftrat, waren dennoch hocherfreut über das späte Geständnis. Nach offizieller Lesart ist damit der Rechtsfrieden wieder hergestellt. Wirksamer als durch ein Urteil, gegen das Revision möglich gewesen wäre. Das Geständnis und die Entschuldigung erfolgte nicht spontan oder von tiefstem Herzen, sondern war Bedingung für einen Deal, der zuvor in häufigen Prozesspausen ausgehandelt worden war. Ofarim drohte durchaus eine Haftstrafe ohne Bewährung.
Im Netz kursiert gerade viel Kritik an einem vermeintlich zu milden Prozessausgang und der Vorwurf eines Promi-Bonus für Ofarim. Viele dieser Kommentare sind aber ebenso faktenfrei wie zwei Jahre zuvor der Erregungs-Tsunami gegen Hotelmanager Markus W. und das Westin Hotel in Leipzig. Die Erregung im Netz erfolgt in immer höherem Tempo. Von einer Erregungs-Ökonomie zu sprechen ist sicherlich nicht zu verwegen.
In der Episode 149 der Turtlezone Tiny Talks erinnern Dr. Michael Gebert und Oliver Schwartz an die Chronologie der Causa Gil Ofarim, analysieren die rechtlichen Fragen und debattieren über die Folgen von Erregungs-Kampagnen, die bereits auf Basis eines Posts oder Videos auf Social-Media zu Shitstorms, Demonstrationen, Solidaritätsbekundungen und sogar Morddrohungen führen. Lange bevor der erste Ermittler seine Arbeit aufnehmen konnte. Ist die Unschuldsvermutung ein Auslaufmodell? Viele Politiker und Prominente der Zivilgesellschaft, die damals reflexartig Haltung zeigen wollten und massive Vorwürfe geäußert haben, ducken sich zwei Jahren weg. Spannende 52 Podcast-Minuten über eine Gratwanderung zwischen der wichtigen Empathie für Opfer und einem besonnenen Umgang mit schnellen Statements und Vorwürfen.